Energieversorgung im Quartier
Zukunftsweisend und effizient
Kernstück des technologisch innovativen Stadtquartiers ist das energetische Versorgungskonzept. Dieses folgt einem zukunftsfähigen Ansatz, bei dem auf lokaler Ebene eine Kopplung der Sektoren Strom, Wärme, Kälte und Mobilität im Mittelpunkt steht. Dafür soll in der Quartiersmitte eine zentrale Versorgungsinfrastruktur mit einer Energiezentrale errichtet werden. Überschüssiger erneuerbarer Strom aus den lokalen Photovoltaik-Anlagen und aus überregionaler Erzeugung wird mittels Elektrolyse umgewandelt. Es entsteht grüner Wasserstoff. Dieser wird gespeichert und kann erstmalig bedarfsangepasst bereitgestellt werden. Die Wärme, die beim Vorgang der Elektrolyse entsteht, wird zudem zur Versorgung des Quartiers beitragen.
Energieversorgungs-konzept
Vernetzung und Energiemanagement
Nutzung grüner Wasserstoff
Nachhaltige Mobilität
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch
Wissenschaftliche Projektleitung, Steinbeis-Innovationszentrum energieplus
Die Zukunft beginnt in Esslingen
Bei der energetischen Versorgung des Quartiers sollen nahezu keine klimaschädlichen Emissionen wie CO2 verursacht und der Energieverbrauch ohne Komfortverlust reduziert werden. Grüner Wasserstoff ist das Schlüsselelement für die Klimaneutralität in der Stadt.
Energieoptimierte Gebäude
Die mehrgeschossige Bebauung in den einzelnen Blöcken erfolgt unter besonderer Berücksichtigung von Energieeffizienz und Wirtschaftlichkeit bei der Umsetzung: Eine gute wärmeschutztechnische Qualität der Gebäudehüllen bildet die Basis für einen niedrigen Energiebedarf und hohen Wohnkomfort. Die Dachflächen werden konsequent für die Stromerzeugung mittels Photovoltaik genutzt und die Gebäude über innovative Systeme mit regenerativer Wärme versorgt. So lässt sich auf Gebäudeebene eine möglichst hohe ökologische Qualität der Energieversorgung erreichen.
Versorgungsstruktur
In den Blöcken Béla und Citadis erfolgt die Wärmeversorgung dezentral aus jeweils einer separaten Technikzentrale, in der ein Biomethan-Blockheizkraftwerk den Großteil der Wärme erzeugt. Ein Gas-Spitzenlastkessel wird lediglich zur Deckung der Bedarfsspitzen eingesetzt. Der Strom der Blockheizkraftwerke und der Photovoltaik-Dachanlagen wird vorrangig für die Versorgung des Mieterstroms verwendet, für eine spätere Nutzung in einen Stromspeicher geladen oder in das Stromnetz eingespeist. Für die Energieversorgung der Blöcke Desiro, E und des Neubaus der Hochschule Esslingen wird eine zentrale Versorgungsinfrastruktur im Quartier aufgebaut.
Energiezentrale
Im Zentrum der „Neuen Weststadt“ soll eine Energiezentrale entstehen, die – aufgrund der städtebaulichen Anforderungen – als unterirdisches Bauwerk ausgeführt wird. In der Energiezentrale bildet ein Elektrolyseur das Herzstück, der überschüssigen Strom aus erneuerbaren Erzeugungsanlagen in Wasserstoff umwandelt und die Energie auf diese Weise speicherfähig macht. Der hierfür benötigte Strom stammt aus lokalen Photovoltaik-Anlagen der Blöcke Desiro, E und des Neubaus der Hochschule sowie aus Erzeugungsanlagen, die von außerhalb überschüssigen, erneuerbaren Strom über das öffentliche Stromnetz liefern. Dieser energiewendedienliche Betrieb gilt als wichtiger Baustein im Kontext der Transformation des bundesdeutschen Energiesystems hin zu einer rein erneuerbaren Energieversorgung.
Effizienzsteigerung der Elektrolyse
Dieser erstmalig in einem innerstädtischen Quartier geplante Ansatz hat eine signifikante Effizienzsteigerung des Elektrolyse-Betriebs zur Folge. Neben dem Ziel einer hohen erneuerbaren Eigenversorgung wird zur Steigerung der Gesamteffizienz die beim Elektrolyseprozess anfallende Abwärme im Quartier genutzt. Dadurch kann der Nutzungsgrad von rund 55–60 Prozent auf 80–85 Prozent angehoben werden. Die Abwärme wird in ein Nahwärmenetz eingespeist, über die Blöcke Desiro, E und das Gebäude der Hochschule aus der unterirdischen Energiezentrale versorgt werden. Diese Infrastruktur deckt den Bedarf für Heizung und Warmwasser der Gebäude und ermöglicht im Sommer über die Einbindung von Adsorptionskälte-Anlagen die Bereitstellung von Kühlenergie.
Elektrolyseprozess - Grüner Wasserstoff
Mit der alkalischen Elektrolyse wird in einem elektrochemischen Prozess Wasser in seine Grundbestandteile Wasserstoff und Sauerstoff getrennt. Die Anlagengröße des Elektrolyseurs beträgt 1 MWel. Bei rund 4.500 Vollbenutzungsstunden und einer systemdienlichen Betriebsweise erzeugt der Elektrolyseur rund 2.800 MWh grünen Wasserstoff pro Jahr (Ø 250 kg/d, ca. 85 t/a). Rund 600 MWh/a nutzbare Abwärme stehen dann aus dem Elektrolyseprozess für die Versorgung von Block Desiro, E und der Hochschule zur Verfügung. Für die ganzjährige Vollversorgung mit Wärme ist in der Energiezentrale zusätzlich eine Wärmepumpe (200 kWth), ein bivalentes Blockheizkraftwerk (Erdgas 300 kWth, H2 138 kWth) und ein Gas-Spitzenlastkessel geplant.
Grüner Wasserstoff in Zahlen – was ist viel, was ist wenig?
Wasserstoff ist der Energieträger mit der höchsten Energiedichte von 33,33 kWh/kg.
Im Klimaquartier „Neue Weststadt“ werden jährlich 85 Tonnen grüner Wasserstoff produziert. Diese jährliche Wasserstoffproduktion aus dem Klimaquartier entspricht …
… dem Jahresstromverbrauch von 726 Dreipersonenhaushalten
(= 2.833.050 kWh/a).
… 283.305 Litern Öl.
… einer 212-fachen Erdumrundung mit dem PKW.
1 Kilogramm grüner Wasserstoff lässt einen PKW rund 100 Kilometer weit klimaneutral fahren.
Vernetzung und Energiemanagement
Im Kontext eines „Smart-Grids“ soll die Vernetzung der Versorgungssysteme mit einem übergreifenden digitalen Informationsnetz und Energiemanagementsystem (EMS) umgesetzt werden. Das prioritäre Ziel des EMS besteht darin, die lokale erneuerbare Eigenversorgung bei gleichzeitig Energiewende dienlicher Interaktion mit dem vorgelagerten Stromnetz zu erhöhen. Gleichzeitig müssen die CO2-Emissionen minimiert und ein wirtschaftlicher Betrieb des Gesamtsystems gewährleistet sein.
Ein zentrales Energiemanagementsystem übernimmt dabei die Steuerung der Energieflüsse. Für die technischen und rechtlichen Herausforderungen bei der dezentralen Energievermarktung (Bsp. Mieterstrom) werden im Rahmen des Forschungsprojekts gezielt neue Lösungsansätze erarbeitet und breit anwendbare Vermarktungsoptionen für den zukünftigen Energiemarkt entwickelt. Ziel ist es, eine hoch automatisierte, datensichere und transparente Abwicklung der Vermarktungsprozesse auf der Ebene des Microgrids direkt in der Praxis zu testen.
Tobias Nusser, M. Sc.
Steinbeis-Innovationszentrum energieplus
Sektorkopplung und Stromspeicher
Die effiziente und energiewendedienliche Kopplung der Sektoren Wärme, Strom, Mobilität und Industrie erfolgt durch eine physische Vernetzung der Einzelkomponenten. Die Wärmeversorgung der Blöcke Desiro, E und der Hochschule aus der Energiezentrale erfolgt über ein separat aufgebautes Nahwärmenetz, das unter anderem mit Wärme aus P2G- und P2H-Anlagen (Elektrolyse und Wärmepumpe) gespeist wird.
Zentrale Stromspeicher dienen dazu, kurzzeitige Abweichungen zwischen erneuerbarer Erzeugung und Energiebedarf im Gebäude- bzw. im Quartiersstromnetz auszugleichen. Zusätzlich können diese bei Bedarf der Stromnetzstabilisierung dienen. So sollen die Batteriespeicher z.B. genutzt werden, um zu jeder Zeit die erforderlichen Ladeleistungen für Elektromobilität bereitstellen zu können.
Wasserstoffnutzung
Die systemdienliche Verwertung des regenerativ erzeugten „grünen Wasserstoffs“ geschieht über lokale und regionale Vermarktungspfade. Sie dient der zeitlich und sektoral entkoppelten Nutzung in den Bereichen Wärme, Strom, Mobilität und in der Industrie.
„Power-to-Gas-to-Power“
Ein kleiner Teil des produzierten „grünen Wasserstoffs“ kann direkt in der Energiezentrale energetisch verwertet werden. Wird in Zeiten ohne ausreichend Photovoltaik-Strom aus dem Quartier Strom und Wärme in den Gebäuden benötigt, lässt sich der Wasserstoff, der im Wasserstoff-Speicher (H2-Tank) in der Energiezentrale gespeichert werden kann mit den bivalenten Blockheizkraftwerken (H2 und Erdgas) wieder schnell und einfach rückverstromen (P2G2P).
Grüner Wasserstoff
Um den „grünen Wasserstoff“ auch Nutzungspfaden außerhalb des Quartiers zuführen zu können, werden in der „Neuen Weststadt“ eine Einspeisestation in das Erdgasnetz, eine H2-Abfüllstation sowie eine H2-Tankstelle auf dem bisherigen Gelände der Stadtwerke Esslingen errichtet. In der ersten Ausbaustufe wird der Wasserstoff über eine H2-Leitung aus der Energiezentrale zur Gasnetz-Einspeisestation und H2-Abfüllstation transportiert. Der Großteil des Wasserstoffs (100-400 kg/d) soll über die Abfüllstation in Trailer mit Röhrenbündelspeicher geladen und mit LKW zu Kunden im Industrie- oder im ÖPNV-Sektor transportiert werden.
Mobilität
Ein zukunftsfähiges Mobilitätskonzept wird in das Versorgungskonzept der „Neuen Weststadt“ integriert. Die Koppelung des Energieversorgungskonzepts mit dem Mobilitätsbereich hat im Zusammenhang mit einer langfristigen und nachhaltigen Stadtentwicklung einen besonderen Stellenwert auch über die Quartiersgrenzen hinaus.
Wasserstoff-Mobilität - Carsharing
Ab September 2023 geht das Wasserstoff-Auto als Teil der Carsharing-Flotte in Esslingen in Betrieb. Das alltagstaugliche Wasserstoff-Auto fährt emissionsfrei und ist ein Angebot des Leuchtturmprojekts „Klimaquartier – Neue Weststadt“. Hierzu wurde der „Verein für emissionsfreie Mobilität Esslingen e.V.“ ins Leben gerufen.
Mehr zum Sharingangebot und zum neuen Wasserstoff-Auto in Esslingen.
Individualverkehr
Neben der H2-Tankstelle entsteht ein flächendeckendes Angebot an öffentlichen und halböffentlichen Ladestationen für Elektromobile. Eine komfortable Ladeinfrastruktur im Quartier für private Fahrzeuge in den Tiefgaragen der Wohnblöcke und die Einbindung eines Car-Sharing-Anbieters sollen eine möglichst breitenwirksame Akzeptanz und hohe Nutzungsintensität fördern. Durch eine Vernetzung der Lade- und der Buchungstechnik der Fahrzeuge kann ein netzdienlicher Betrieb (bevorzugte Aufladung bei Überschüssen) realisiert werden. In einer weiteren Ausbaustufe ist auch eine Rückspeisung aus den Fahrzeugen ins Gebäude bzw. Quartiersnetz möglich. Geeignete Dienstleistungsangebote sollen die Mobilität möglichst emissionsfrei gestalten und sie zu einem großen Anteil mit erneuerbaren Energieträgern aus dem Quartier (PV-Strom, H2 aus Elektrolyse) versorgen. Gleichzeitig soll dabei die Anzahl der erforderlichen Fahrzeuge und Stellplätze auf ein Mindestmaß reduziert werden, um einen ökologischen und ökonomischen Mehrwert im Rahmen der Quartiersentwicklung zu erzielen.
Öffentlicher Personennahverkehr
Die ökologische Umgestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) ist nicht zuletzt aufgrund der NOx– und Feinstaubproblematik ein vordringliches Thema bei der zukünftigen Stadt- und Verkehrsplanung. Hier hat die Stadt Esslingen schon eine Vorreiterrolle, da sie zu den drei Kommunen in Deutschland gehört, in denen ein großer Anteil der öffentlichen Verkehrsleistung mit strombetriebenen, oberleitungsgebundenen Bussen erbracht wird. Die noch in Betrieb befindlichen Dieselbusse sollen zeitnah durch Elektro-Hybridbusse ersetzt werden, um das langfristige Ziel einer nahezu vollständigen Elektrifizierung des Esslinger Liniennetzes zu erreichen. Da das Oberleitungsnetz nicht komplett ausgebaut werden kann, sind dafür Elektrobusse mit Batterien notwendig, die die erforderlichen Streckenabschnitte ohne Oberleitungsnetz auch überbrücken können.
Elektro-Hybridbusse
Durch die im Rahmen des Projekts angeschafften Elektro-Hybridbusse können die elektrisch gefahrenen Strecken – bei einem Ausbau der Oberleitungslinien um 20 Prozent – vervierfacht werden, was einer 100 Prozent-Abdeckung entspricht. Das Energiekonzept der „Neuen Weststadt“ plant die bilaterale Nutzung von lokalem, erneuerbarem Überschussstrom aus dem Quartier und nicht nutzbarer Rekuperationsenergie aus dem Gleichstrom-Oberleitungsnetz des ÖPNV. Eine nachhaltige Nutzung der Busbatterien soll zudem gewährleistet werden, indem diese am Ende der Lebensdauer einer Second-Life-Nachnutzung zugeführt werden. Hierzu finden die Traktionsbatterien als Bestandteil von regelbaren Ortsnetzstationen (Buffer-Stationen), an der Schnittstelle des Oberleitungsnetzes zum öffentlichen Stromnetz, Verwendung. Die stationäre Weiternutzung der Busbatterien geht mit einer ressourcenschonenden Aufwertung der lokalen Strominfrastruktur einher.